Der Morgen verhüllt den Blick in die Ferne noch etwas mit den restlichen Wolken dieser Nacht. Es hat scheinbar geregnet … nicht die beste Voraussetzung für unsere Abfahrt. Aber schon nach den ersten Metern wird klar, dass es trocken genug ist. Wir tragen auf den Zwischenkofel und stehen nun vor der Abfahrt, die wir uns gestern so hart erkämpft haben. Wir suchen uns durch das zerklüftete Gestein nach unten, der Grip ist sensationell und mit einem guten Auge findet man immer die richtige Line … Freeride, im eigentlichen Sinn. Mal nutzt man Felsrippen für die Abfahrt, ein anderes Mal ist es eine flache Platte oder irgendeine andere Lösung. Wie ein Puzzle fügt sich der Weg zusammen, stellt dem Biker immer neue Aufgaben. Die Schwierigkeit lässt sich nur schwer beziffern, weil eine minimal andere Linienwahl alles zum Guten wenden kann, oder eben auch nicht. In seiner Gesamtheit kann man aber fast von S4 sprechen, einfach weil es eben nicht der 0815 vorgeplante Bikeparktrail ist, sondern Kreativität erfordert. Vielleicht trifft es diese Formulierung besser: Wer sich im Klaren ist, was es bedeutet das Mittagstal herauf zu tragen und diese Mühe auf sich nimmt, der wird auch bergab Spaß haben. Eines steht zumindest für uns fest: Dieses unfassbare Erlebnis mit dem Bike mitten in einem Dolomitenstock bergab zu zirkeln ist jede erdenkliche Mühe wert.
Es ist kurz vor 10, unsere Köpfe sind in den letzten Stunden mit Eindrücken geflutet worden, die normalerweise mehrere Etappen benötigen, doch sind wir noch ganz am Anfang dieses Tages. Wir müssen wieder nach oben treten, um den Einstieg des Bindelwegs zu erreichen. Italien, Skigebiet, Forstweg à „Mit jeder Kurbelumdrehung fährt man gefühlt einen Höhenmeter nach oben und 30cm vorwärts“. Aber es zahlt sich aus: Die Aussicht auf die Marmolada von diesem Höhenweg ist beeindruckend. Das wissen aber leider nicht nur wir. Bevor die Menschenmassen noch größer werden haben wir den Großteil hinter uns gebracht und befinden uns auf einem ausgesetzten, schwierigen Singletrail hinab zum Lago di Fedaia. Es kostet einiges an Überwindung in den engen Spitzkehren zu versetzen … ein Fehler wäre zumindest ungesund.
Nach dem Mittagessen stürzen wir uns zunächst rasant die Passstraße hinunter, bis wir den letzten Anstieg des Tages in Angriff nehmen. Uns ist Anfangs nicht ganz klar, ob wir überhaupt richtig sind. Wir schieben einen gräßlich steilen Weg bergauf, doch es scheint keine Alternative dazu zu geben. Mit jedem Schritt wird uns klarer, dass wir zwar richtig sind, jedoch eine Tortur vor uns haben, wenn wir versuchen wollen hier zu fahren. Im oberen Teil wird es zwar etwas flacher, aber bis dahin hat man schon viel Kraft gelassen. Wir entscheiden uns für den Passo del Col Becher und nicht für die Forca Rossa. In Anbetracht der teils abgerutschten und zugewachsenen Abfahrt wäre die zweite Variante aber vermutlich die bessere gewesen.
So bleiben uns am Ende dieses vollgepackten Tages noch 500 harte Höhenmeter zu unserer erstklassigen Unterkunft.
Höhenprofil
Karte
Hinweise: Die dicken Linien entsprechen der tatsächlich gefahrenen Route, die dünnen, dunkleren Linien der geplanten Route. Aufgrund unvollständiger GPS-Aufzeichnungen sind einige Teile des Tracks handgezeichnet.